Wurde ein Anästhesist gerufen?

Es war ein sonniger Nachmittag in Berlin. Ich hatte einen hektischen Frühdienst im Kreißsaal hinter mir.

Es war 15 Uhr, ich hatte mir einen PC im Hebammenbüro erkämpft, wo ich gemütlich sitzend meine Dokumentation beenden konnte.
Um mich herum spielte sich das normale Kreißsaalleben ab: Hebammen kamen und gingen, jemand trank Kaffee, der Spätdienst kam langsam zur Arbeit. Ich saß eigentlich in der Mitte des Kreißsaals, jeder konnte mich gut sehen.

Irgendwie mit meinem sechsten Sinn spüre ich, dass etwas passiert. Am Rand meines Blickfeldes, das eigentlich auf den Bildschirm meines Computers gerichtet ist, sehe ich, dass jemand durch den Flur rennt.

Ich drehe mich um und frage in den Raum hinein: “Passiert etwas?”
Jemand antwortet: "Eine Patientin blutet".

Und dann höre ich einen Schrei: “Wo ist Nadia?”, “Holt schnell einen Anästhesisten!"
Ich gehe schnell ins Gebärzimmer um die Ecke. Auf dem Weg schnappe ich mir ein BGA-Röhrchen, das auf dem Esstisch liegt.
Man kennt diesen “ersten Blick”: Eine Hebamme sitzt neben der Patientin und zieht ein Medikament auf. Im Sessel neben dem Entbindungsbett sitzt der frischgebackene Vater und hält ein süßes Baby auf dem Arm.

Im Bett liegt eine bewusstlose Patientin, totenbleich und mit einem feuchten Tuch auf der Stirn.
Neben dem Bett steht ein Monitor, ich sehe eine Herzfrequenz von 135/min und einen Blutdruck von 85/45 mmHg. Die Sättigung beträgt 95%.

Zwischen den Beinen der Patientin befindet sich eine Blutlache. 

Die Patientin hat einen grünen 18 G Venenzugang. Dort tropft langsam eine 500 ml Flasche Sterofundin. Die Flasche ist noch halb voll.
Ich sehe das alles in einer Sekunde - deshalb heißt es “Blickdiagnose”.

Und die Diagnose lautet: “schwerer hämorrhagischer Schock”.
Nach xABCD haben wir ein schweres x-Problem und ein C-Problem. A und B habe ich noch nicht untersucht.

Was sagt uns die S2k-Leitlinie “Peripartale Blutung” (Version 3.2 vom 1.8.2022)?

“Je nach Situation/Blutverlust sollen erfahrene Hebammen und Geburtshelfer sowie Anästhesisten und andere Disziplinen informiert und hinzugezogen werden.”
(Konsensusempfehlung 5.E4. Konsensstärke: +++)

Zum Glück ist ein Anästhesist jetzt da.

Ich greife schnell alles für den 2. Venenzugang, nehme die Röhrchen für BGA, Blutbild und Gerinnung. Hinter mir steht beriets eine erfahrene Hebamme. Sie hat schon eine zweite Infusion in der Hand.
Ich drücke ihr die Laborröhrchen in die Hand und sage: “Bitte schnell BGA machen, und dann 2 EK’s kreuzen und Gerinnung und Blutbild bestimmen.”
Ich drucke die Infusionsflasche fest, damit es schneller läuft, bereite eine 3. Flasche vor.

Jetzt kommt eine Kollegin von der Geburtshilfe, sie macht einen Ultraschall der Gebärmutter.

BGA ist da: Laktat ist 4-fach erhöht, Base Excess ist niedrig - es bestätigt meine Diagnose eines hämorrhagischen Schocks. 

Während der Geburt trinken viele Frauen zu wenig, schwitzen aber viel und verlieren viel Flüssigkeit. Sie sind ausgetrocknet.
Wenn dann nach der Geburt noch Blut verloren geht, kommt es schnell zu einem massiven Flüssigkeitsmangel mit entsprechender Unterversorgung der Organe mit Blut.
Wir nennen das Schock.

Jetzt ist 1 Liter Flüssigkeit drin, die Patientin wacht langsam auf, sie sagt, es geht ihr besser, fragt nach dem Baby. Herzfrequenz sinkt auf 105/min. Blutdruck 95/65 mmHg.

Jetzt sind 2 Hebammen da, die Oberärztin der Gynäkologie ist auch da. Die Blutung hat aufgehört. Plazenta ist geboren, Uterus gut kontrahiert.

Ich bitte, noch 500 ml Sterofundin zu geben und dann noch einmal BGA zu machen. Später auch nach Urinmenge zu schauen.
Die Patientin kommt langsam aus der Lebensgefahr.

Diesmal ist alles gut gegangen. 

Und habt ihr einen Anästhesist gerufen?

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