Traumgeburt zum Traumageburt
Eine Beschwerde
Neulich lag auf meinem Schreibtisch im Krankenhaus die Beschwerde einer Frau, die sich bei uns entbunden hatte.
Eine junge, gesunde Frau hat ein gesundes Kind geboren. Aber während der Geburt wurden die CTG-Werte (Herztöne des Kindes) etwas schlechter und ihre Hebamme sagte ihr, sie solle sich bitte auf die linke Seite legen. In dieser Position waren die Herztöne des Kindes besser. Der Frau wurde aber im Vorbereitungskurs gesagt, dass sie während der Geburt jede Position einnehmen kann, die sie möchte. Und jetzt muss sie 30 Minuten auf der linken Seite liegen. Das war für sie unbequem. Sie fand es sehr traumatisch.
Also eine traumatische Geburt.
Das Kind hat Sauerstoffmangel
In der letzten Phase der Geburt, manchmal auch unerwartet, kann es vorkommen, dass es dem Kind schlecht geht und es an Sauerstoffmangel leidet. Dies zeigt sich in einem bestimmten Muster auf dem aufgezeichneten CTG (Herztöne des Kindes). Wenn das Kind nicht innerhalb weniger Minuten mit Sauerstoff versorgt wird, besteht die Gefahr, dass das Kind aufgrund des Sauerstoffmangels einen Hirnschaden erleidet und in seinem späteren Leben in vielen Fähigkeiten eingeschränkt ist.
Staubsauger für das Baby
solchen Situationen müssen Hebammen und Geburtshelfer sehr schnell handeln, um das Kind so schnell wie möglich auf die Welt zu bringen. Eine Möglichkeit ist die Vakuumextraktion des Kindes. Meine eigenen Kinder nennen es “Staubsauger für das Baby” - unser Jüngster ist so auf die Welt gekommen. Sehr bildhaft und eigentlich eine zutreffende Beschreibung.
Aufgrund der absolut zeitkritischen Situation bleibt meist keine Zeit für lange Diskussionen mit dem Paar, warum und wieso dies und jenes gemacht wird, mögliche Risiken und Nebenwirkungen, mögliche Optionen und Alternativen. Jede Minute zählt - jede Minute ohne Sauerstoff sterben Gehirnzellen im winzigen Gehirn des Babys ab.
KiWi hilft
Die nächste Beschwerde liegt auf meinem Schreibtisch: In der Austreibungsphase der Geburt haben die Ärzte eine Mini-Saugglocke, genannt KiWi, eingesetzt, um das Kind schnell auf die Welt zu bringen. Für ein langes Gespräch mit der Patientin und ihrem Mann war keine Zeit. Die Patientin fühlte sich übergriffig, vergewaltigt, hilflos, ausgeliefert. Sie empfand es als traumatisch und wurde traumatisiert.
Eine weitere traumatische Geburt.
Was sagen die Zahlen
Ich schaue in die Literatur. Der Deutsche Hebammenverband schreibt, dass ca. 20% aller Geburten in Deutschland von den Frauen als traumatisch erlebt werden. https://hebammenverband.de/wp-content/uploads/2025/02/2025_DHV-Kampagne_BTW25_Geburtstrauma.pdf Das sind über 200.000 junge Mütter pro Jahr. Andere Quellen geben an, dass 9 bis 50% der Frauen traumatische Erfahrungen während der Geburt machen, bis zu 19% der Frauen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Das bedeutet, dass fast jede zweite Geburt als traumatisch erlebt wird.
Schauen wir uns nun die Komplikationsstatistik an. Hier steht, dass ca. 10% aller Geburten in Deutschland mit Komplikationen verlaufen. (https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0641-6584.pdf)
Auch unsere interne Geburtenstatistik (wird jährlich von unserem Controlling erhoben) zeigt, dass ca. 12% aller Geburten mit Komplikationen verlaufen.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass 10 bis 40 % aller Frauen, die ihre Geburt als traumatisch empfinden, keine Komplikationen hatten. Jedenfalls keine, die wir als Ärzte als Komplikationen einstufen.
Meine Freundin und ihre 12 Kinder.
Ich habe einen großen Freundeskreis, wir haben alle relativ viele Kinder. Einige meiner Freundinnen haben 6 Kinder, 1 Freundin hat noch 7 Kinder, 1 hat 8 Kinder, andere haben 10 Kinder und noch 1 Freundin hat 12 Kinder. Ihre älteste Tochter mit ihren 6 Kindern ist eine meiner besten Freundinnen. Wir treffen uns oft und reden natürlich auch über unsere Geburten. Einige von uns hatten Notkaiserschnitte, es gab mehrere Frühgeburten, andere hatten verschiedene Komplikationen vor, während und nach der Geburt. Ich selbst hatte bei meinen 6 Geburten verschiedene schwierige Situationen und Komplikationen. In den 20 Jahren unserer Freundschaft habe ich noch nie gehört, dass eine unserer Freundinnen ihre Geburt als traumatisch empfunden hat oder sich traumatisiert fühlte. Warum ist das bei uns so anders?
Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Ich habe nur Vermutungen.
Wir verlassen hier den Bereich der wissenschaftlichen und evidenzbasierten Medizin. Ich fühle mich deshalb deutlich unwohler, möchte aber trotzdem meine Gedanken dazu mit Euch teilen.
Keine Erwartungen - keine Enttäuschungen
Die Geburt ist eines der am wenigsten planbaren Ereignisse im Leben einer Frau. Aber gerade zu diesem Ereignis kommen die Paare mit sehr detaillierten Plänen und Erwartungen. Ich habe dreiseitige Geburtspläne von Patientinnen gelesen. Da stand alles ganz genau drin, wie die Geburt ablaufen soll.
Kein Wunder, dass es nicht nach Plan läuft. Die Realität weicht vom Plan ab und das führt zu Enttäuschung, Hilflosigkeit und Trauma.
Dankbarkeit
Frauen fühlen sich durch medizinische Eingriffe traumatisiert: Kristeller, Dammschnitt, Kaiserschnitt, Saugglockengeburt etc. Doch all diese Eingriffe dienen dazu, das Kind schneller auf die Welt zu bringen, wenn es in Gefahr ist. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit sollte folgen, dass unsere moderne Medizin es ermöglicht, die Risiken für Kind und Mutter zu minimieren.
An die Stelle der Dankbarkeit treten Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlusts. Und es folgt ein traumatisches Geburtserlebnis.
Vertrauen
Aus meinen eigenen Beobachtungen und auch aus den Studien zu GenZ stelle ich fest, dass die Fähigkeit zu vertrauen deutlich abgenommen hat. Und damit meine ich alle Ebenen des Vertrauens: Vertrauen in mich selbst, dass ich es schaffe, das Kind auf natürlichem Wege zur Welt zu bringen. Vertrauen in die Ärzte und Hebammen, dass sie ihren Job gut machen. Und Vertrauen in Gott, dass er für alle da ist.
Kein Opfer zu sein ist eine Wahl
Traumatisiert zu sein schafft eine Opfer-Identität. Sie ist heute notwendig, um politisch korrekt zu sein. Ohne Opfer-Identität ist es für die moderne Frau schwierig, sich zu identifizieren.
Für mich ist das unverständlich. Ich habe ein Weltbild der inneren Stärke und der Kontrolle über mein Leben, ein Weltbild, in dem ich Gott vertraue.
Es stimmt, dass ich nicht alles kontrollieren kann, was von außen in mein Leben kommt. Aber ich kann kontrollieren, wie ich reagiere und ich entscheide, was ich fühle. Meine Gefühle gehören mir, und ich entscheide, ob ich von den Ereignissen traumatisiert werde.
Wer hat das Sagen?
Tatsächlich passieren viele Dinge während der Geburt. Und auf viele dieser Dinge haben wir wenig Einfluss oder diese Ereignisse liegen völlig außerhalb unserer Kontrolle. In vielen Momenten meines Lebens kann ich nicht entscheiden, was mit mir passiert. Das kann ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit auslösen. Aber in jedem Moment meines Lebens kann ich entscheiden, wie ich mich verhalte und wie ich zu dem stehe, was passiert. Ich entscheide, wie ich mich fühle. Ich habe nicht die totale Kontrolle über mein Leben. Aber ich habe die Kontrolle über mich. Das ist ein gutes Antidot gegen Ohnmacht.
Persönliche Anmerkung
Ich weiß, dass Geburten wehtun, unberechenbar und anstrengend sind und dass viel passieren kann. Ich habe 6 Geburten erlebt. Ich hatte Blutungen, ich hatte eine Einleitung, ich hatte Geburten, die über 3 Tage dauerten, ich hatte eine VE in der Sectio-Bereitschaft. Aber ich habe mich entschieden, diese Kinder auf die Welt zu bringen. Und ich habe mich entschieden, alles auf mich zu nehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Mein Mann und ich haben darüber gesprochen, dass der Tod der Mutter während der Geburt zwar eine kleine, aber nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit darstellt. Und als ich einige Tage später mit dem Kind und auf eigenen Beinen nach Hause komme, bin ich erfüllt von Freude und Dankbarkeit. Ich entscheide, dass alles so gelaufen ist, wie es gelaufen ist, und dass es gut gelaufen ist.
Im Jahr 2027 soll eine neue S3-Leitlinie “Peripartale TRAUMAtisierung - Prophylaxe, Diagnostik und Therapie (PERITRAUMA)” erscheinen. Ich bin sehr gespannt, was darin stehen wird.
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