Schwanger und verletzt

“Wer einen Fehler macht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.”
Konfuzius

Wo ist der Finger?

Ein sonniger Nachmittag, mildes Herbstwetter, die Bäume schmücken sich mit wunderschönen roten und gelben Blättern.Die Leitstelle der Feuerwehr schickt uns den nächsten Alarm: Gasexplosion in einer Werkstatt.

Die Einsatzkräfte rücken an. Die Einsatzstelle ist gesichert.

Wir haben einen Verletzten: Er ist beim Öffnen einer Gasflasche verunglückt.

Er sitzt am Boden und stöhnt.

Verletzungsmuster: Ein Finger der rechten Hand ist amputiert.

Viele Menschen rennen um den Verletzten herum: Alle suchen nach seinem amputierten Finger, rennen umher, um einen Plastikbeutel mit Eiswürfeln zu holen, in dem der Finger aufbewahrt werden soll. Telefonieren, um die beste Klinik mit exzellenter Handchirurgie zu finden.

Life for limb

Stopp, stopp! Der Patient liegt mindestens 5 Meter von der Gasflasche entfernt. Er wurde durch die Luft geschleudert, prallte mit dem Kopf gegen die Wand und mit der linken Brustseite gegen die Ecke eines Müllcontainers. Er hat einen GCS von 13, eine Sättigung von 88% unter Raumluft, eine Atemfrequenz von 30 pro Minute, eine Herzfrequenz von 130 pro Minute und einen Blutdruck von 90/55 mmHg. Er ist blass und kaltschweißig.

Er ist ein schwer traumatisierter Patient mit Schädel-Hirn-Trauma, Lungenkontusion, multiplen Rippenfrakturen und Milzruptur mit respiratorischer Insuffizienz, er befindet sich im hämorrhagischen Schock.

Ablenkende Verletzung

Und was ist mit dem Finger? Aha, wir nennen es eine „ablenkende Verletzung“: eine spektakuläre und seltene Verletzung, die uns von den anderen lebensbedrohlichen Verletzungen ablenkt.

Das Team denkt, dass dem Patienten geholfen ist, wenn wir uns darum kümmern, dass er seinen Finger zurückbekommt, aber in Wirklichkeit ist sein Leben in Gefahr, weil die wichtigeren Verletzungen nicht behandelt werden.

Warum schreibe ich das hier?
Weil eine Schwangerschaft auch eine solche „ablenkende Verletzung“ ist.

Polytrauma+Schwangere=Alptraum

Stellt euch vor: Ein rotes Telefon klingelt in der Rettungsstelle: Polytrauma-Alarm der Berliner Feuerwehr.
Alle Mitglieder des Traumateams eilen in den Schockraum.
Durch die Tür kommen Sanitäter mit einer Trage. Auf der Trage liegt eine junge Frau mit dickem Bauch, sie ist offensichtlich schwanger. „Übergabe!“ - ruft der Traumaleader.

Es ist ein Verkehrsunfall. Verfluchte deutsche Landstraße. Mit 70 Stundenkilometern hat sie in einer Kurve die Kontrolle über ihr Auto verloren. Sie ist gegen den Baum geprallt. Sie war angeschnallt. Die Airbags haben ausgelöst.

Was passiert jetzt in der Notaufnahme? Richtig, der Traumaleader ruft panisch unsere Gynäkologen an, die Traumaschwester sucht vergeblich nach einem CTG-Gerät. Schnell wird die Patientin in die linke Seitenlage gebracht. Alles nur, weil die Patientin schwanger ist. Alle werden vom großen Schwangerschaftsbauch abgewiesen und sofort ist das A-B-C-D-E Prinzip vergessen. Genau, denn die Schwangerschaft ist eine “ablenkende Verletzung”. Sie erlaubt uns nicht, uns auf die potentiell lebensbedrohlichen Verletzungen der Mutter im Rahmen des Traumas zu konzentrieren. Und was würde in einem solchen Fall in Ihrer Notaufnahme passieren?

Hand aufs Herz: Wer von euch Notfallsanitätern kann sich das Anlegen eines Beckengurtes bei einer schwangeren Verletzten vorstellen?

Leitlinie: lieben, hassen oder sein lassen.

In unserer aktuellen S3-Leitlinie “Polytrauma” (Stand 2022) wird das Trauma in der Schwangerschaft nicht erwähnt.

Eine sehr interessante Arbeit von Anne Weißleder und Kollegen aus dem Jahr 2020 beschreibt die "Akutversorgung schwangerer Patientinnen nach schwerem Trauma - eine retrospektive multizentrische Analyse aus dem TraumaRegister DGU".

Diese Studie hat mich zutiefst erschreckt: Jede 12. schwangere Frau erleidet in der Schwangerschaft ein Trauma. Die Briten haben veröffentlicht, dass jede 8. Schwangere Gewalt in der Schwangerschaft erlebt.

In der präklinischen Versorgungsphase sind Schwangere jedoch massiv unterversorgt: Sie werden viel seltener intubiert (10% vs. 19%), sie erhalten viel seltener Analgetika (42% vs. 61%).

Auch die intrahospitale Versorgung von polytraumatisierten Schwangeren war deutlich schlechter als bei gleich verletzten Nichtschwangeren: Polytrauma-CT wurde nur in 33% der Fälle durchgeführt, verglichen mit 80% bei nicht schwangeren Frauen. Eine Computertomographie erhielten nur 37% der Schwangeren gegenüber 88% der Nichtschwangeren. Und die Sterblichkeit von schwangeren Patientinnen mit Polytrauma ist deutlich höher als bei nicht schwangeren Patientinnen.

Notfall-Alphabet

Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass schwangere Patientinnen mindestens genauso gut versorgt werden wie alle anderen. Die Stabilisierung der Mutter kommt vor der Beurteilung des Fötus. x-A-B-C kommt vor dem D in unserem Notfall-Alphabet. Wenn wir eine schwangere Patientin versorgen, brauchen wir viele Spezialisten im Traumateam: Unfallchirurgen, Allgemeinchirurgen, Anästhesisten, Geburtshelfer, Hebammen, Neonatologen und Radiologen.

Was macht Ihr anders, wenn Ihr das nächste Mal zur Polytrauma-Versorgung kommt und das Stichwort “Schwangere” lautet?

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