Lieber das Kind beim Namen nennen und damit die Fehler vermeiden.

Wie heißt du, Baby? 

Ich bin seit über 25 Jahren mit einem sehr guten Informatiker verheiratet. Dadurch habe ich einiges über die Welt der Computer und der Programmierung gelernt. Es gibt viele Parallelen zwischen der Welt der Computer und Netzwerke, der Welt der Programmiersprachen und der Welt der Menschen, unserer Netzwerke und Sprachen. Wenn ein Programmierer einen Code schreibt, bewirkt jede Zeile Code eine bestimmte Veränderung in dem, was der Computer tut. 

Ähnlich ist es beim Menschen, wo bestimmte Wörter oder Begriffe bestimmte Reaktionen und Handlungen hervorrufen. Diese Handlungen sind das Ergebnis eines bestimmten Trainings oder einer sozialen Prägung, die wir als Menschen im Laufe unseres Lebens erhalten. 

Ein banales Beispiel: Mein Kugelschreiber liegt auf dem Boden. Ein Kollege hebt ihn auf und gibt ihn mir. Ich lächle ihn an und sage „Danke“ . Er lächelt zurück und sagt "Gerne" - eine normale soziale Interaktion. Und läuft „glatt“, wie ein Code-Programm im PC. 

Nachts im Kreißsaal

Jetzt begeben wir uns in die Welt der Medizin. Wir sind im Kreißsaal, im Nachtdienst ruft eine Anästhesistin aus dem Kreißsaal ihre diensthabende Fachärztin für Anästhesiologie an.
Sie berichtet, dass im Kreißsaal gerade eine Patientin entbunden hat, sie ist tachykard und hypoton, etwas blass und angeblich blutet sie.
„Na und?“ - sagt der Bereitschaftsdienst - „Mal sehen, wie es sich entwickelt.“ 

Und jetzt der gleiche Dialog und die gleiche Patientin, aber mit einem anderen Hergang:
"Nadia, eine Patientin im Kreißsaal entwickelt einen hämorrhagischen Schock aufgrund einer schweren PPH."
"Oh, ich komme sofort. Sind die EK’s gekreuzt? Große Zugänge gelegt? Volumen läuft? Labor weg? Uterotonika? Ich bringe noch eine Anästhesieschwester mit, damit wir mehr Hände haben."

So wie es im ersten Dialog läuft, werden wahrscheinlich notwendige Maßnahmen spät ergriffen, das Fachexpertise kommt später und das gesamte Outcome ist wahrscheinlich schlechter. Im zweiten Fall geht alles viel schneller, die notwendigen Maßnahmen werden schnell getroffen, die Expertise ist da, die Patientenversorgung ist deutlich besser. Und das nur, weil die richtigen Begriffe genannt werden. 

Übergabe am früheren Morgen

Ein weiteres Beispiel aus dem Kreißsaalalltag.
Frühmorgendliche Übergabe, alle sind noch etwas müde und trinken die erste Tasse Kaffee.
Die Hebamme stellt eine Patientin vor, die in der Nacht eingeliefert wurde. Sie sagt, die Patientin habe einen erhöhten Blutdruck, Kopfschmerzen, leichte Bauchschmerzen und ausgeprägte Beinödeme.
Alle fünf Ärzte, die bei der Übergabe sitzen, nicken schläfrig und trinken weiter ihren Kaffee. 

Und jetzt die gleiche Übergabe, nur anders. Die Hebamme sagt:
"Wir haben heute im Nachtdienst eine Patientin mit Präeklampsie aufgenommen. Mehrere Organsysteme sind bereits betroffen."
Plötzlich sind alle Beteiligten wach und ganz aufmerksam:
"Wie hoch sind die Blutdruckwerte? Wie sind die Laborparameter? Was habt ihr für die Blutdrucksenkung angesetzt? Wie schnell wollen wie die Patientin entbinden?"

Das ist doch eine ganz andere Reaktion, oder? 

Kind beim Namen nennen

Wir Ärzte haben bestimmte Szenarien und klinische Situationen trainiert. Bestimmte Worte lösen bei uns bestimmte Handlungen aus. Das ist auch gut so. Aber wenn diese Worte, diese Namen nicht genannt werden, oder noch schlimmer, bewusst umgangen werden (“Was ich nicht nenne, ist quasi nicht wahr"), dann unterbleibt die Handlung, die Maßnahmen werden zu spät gesetzt, die Prognose für die Patientinnen ist deutlich schlechter. 

Wenn ich unsere jungen Assistenzärzte im Kreißsaal einarbeite, sage ich: „Jedes Kind muss beim Namen genannt werden!“ Damit meine ich, dass jeder Symptomenkomplex, auch wenn er als solcher umschrieben werden kann, einen eindeutigen Namen braucht.
„Es ist PPH mit hämorrhagischem Schock“ und „es ist Präeklampsie mit Beteiligung von 3 Organsystemen“ oder „es ist pneumogene Sepsis mit globaler respiratorischer Insuffizienz“ und so weiter.

 Jedes Kind hat einen Namen, jeder Symptomkomplex hat sein Fachbegriff.

Lass uns das Kind beim Namen nennen und damit Fehler vermeiden!

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